Die Differentialrechnung ist u.a. durch das Tangentenproblem und das Geschwindigkeitsproblem motiviert. Dabei ist also eine Funktion – etwa die Funktion des zurückgelegten Weges eines sich bewegenden Massepunktes – gegeben, und die Ableitung der Funktion – also die Funktion der Geschwindigkeit des Punktes – ist gesucht.
In der Praxis entsteht oft die umgekehrte Fragestellung. Z.B. kann die Funktion der Geschwindigkeit gegeben sein, und man sucht die Funktion des Weges. Also gegeben ist eine Funktion , gesucht ist eine differenzierbare Funktion mit . Dies führt uns in gewisser Weise zur Umkehrung des Differenzierens, zum (unbestimmten) Integrieren. Mit dieser Fragestellung verwandt, obwohl auf dem ersten Blick nicht zu erkennen, ist das sog. Flächenproblem :
Gegeben sei eine in einem abgeschlossenen Intervall mit definierte und nicht negative Funktion . Es erhebt sich die Frage, ob der ebenen Punktmenge
in „vernünftiger Weise“ ein Flächeninhalt zugeschrieben werden kann und wie dieser gegebenenfalls berechnet werden könnte? (siehe auch Abb. 9.1 und 9.2)
Diese Fragestellungen werden in den nächsten beiden
Abschnitten behandelt. Wir befassen uns zunächst mit der „Umkehrung des
Differenzierens“.
9.1 Das unbestimmte Integral
Im folgenden seien – wenn nichts anderes vereinbart wird – reellwertige Funktionen einer reellen Veränderlichen, und sei ein Intervall in .
Definition. (Stammfunktion)
Es seien in einer Menge definiert.
ist eine Stammfunktion von in =Df
Satz 9.1 Sind und Stammfunktionen von in einem Intervall , dann unterscheiden sich und höchstens um eine additive Konstante. (D.h., es existiert ein , so daß für jedes ).
Beweis. Nach Voraussetzung
gilt
in
.
Folglich ist
,
und nach dem Korollar zum ersten Mittelwertsatz der Differentialrechnung
ist
konstant.
Bemerkung.
(1)
(2)
Beweis zu (2). Ist eine beliebige Stammfunktion von und , dann ist auch eine Stammfunktion, und es gilt . Ist ebenfalls eine Stammfunktion von mit , dann unterscheiden sich und nur um eine additive Konstante, also . Folglich ist .
Für diese – durch eindeutig bestimmte – Stammfunktion benutzen wir folgende Bezeichnungen:
Bez.:
Aus drucktechnischen Gründen schreiben wir für auch
Offenbar gilt .
Definition. (unbestimmtes Integral )
Die Menge aller Stammfunktionen von in einem Intervall heißt unbestimmtes Integral von in . Bez.: .
Das unbestimmte Integral von einer Funktion – die eine Stammfunktion besitzt – ist also eine ganze Klasse von Funktionen, die sich voneinander nur um eine additive Konstante unterscheiden. Will man mit diesen Klassen „rechnen“, dann kann man dies repräsentantenweise tun und jeweils entsprechende Konstanten addieren.
Zusammenstellung von Grundintegralen
|
Diese Grundintegrale werden alle durch Differentiation bewiesen.
Beispiel. Es gilt , wobei eine beliebige Konstante ist.
Es genügt zu zeigen, daß eine Stammfunktion von mit ist. Für ist , also und schließlich . Für ist und damit
Integration zusammengesetzter Funktionen
Aus den Differentiationsregeln gewinnt man entsprechende Regeln für das Integrieren.
Satz 9.2 Integration einer Summe Es seien . Besitzen und Stammfunktionen in , dann besitzt auch eine Stammfunktion in , und es gilt
Beweis. Sei und seien die Stammfunktionen von bzw. , für die , also und und Dann ist offenbar die Stammfunktion von in , welche an der Stelle Null wird. Also ist
Bemerkung. Hieraus folgt sofort
Die Produktregel für das Differenzieren liefert eine entsprechende Regel für das Integrieren. Denn , folglich ist eine Stammfunktion für . Setzt man und , dann motiviert dies den folgenden Satz.
Satz 9.3 partielle Integration Es seien und in definiert. Besitzt in eine Stammfunktion und ist in differenzierbar und besitzt in eine Stammfunktion, dann besitzt auch in eine Stammfunktion, und es ist
Beweis. Es sei und o.B.d.A. sei die Stammfunktion von in , die an der Stelle Null wird. Weiterhin sei
Dann ist als Differenz zweier differenzierbarer Funktionen wieder differenzierbar in , und es gilt
Folglich ist
die Stammfunktion von
in
,
die an der Stelle
Null wird. Hieraus folgt die Behauptung.
Bemerkung. Ersetzt man in Satz 9.3 durch und damit durch , dann erhält man .
Beispiel. Es sei .
Wir versuchen, dieses Integral mit Hilfe der partiellen Integration zu berechnen. Ansatz 1: und . Dann ist eine Stammfunktion von und . Folglich ist
Das letzte Integral ist aber komplizierter als das Ausgangsintegral, demzufolge führt dieser Ansatz nicht zum Ziel. Ansatz 2: und . Dann ist eine Stammfunktion von und . Folglich ist
Auch die Kettenregel für das Differenzieren liefert eine entsprechende Regel für das Integrieren. Denn , folglich ist eine Stammfunktion von . Setzt man und , dann motiviert dies folgenden Satz.
Satz 9.4 Substitutionsregel Sei in dem Intervall und in dem Intervall definiert, und es sei . Besitzt in eine Stammfunktion und ist in differenzierbar, dann besitzt in eine Stammfunktion, und es gilt
wobei und .
Beweis. Sei und die Stammfunktion von in , die in Null wird. Es gilt also und
Folglich ist die Stammfunktion von , die in Null wird, denn . Also ist
und damit gilt auch
Mit Hilfe einer Stammfunktion von läßt sich sofort das unbestimmte Integral angeben.
Beispiele.
1. Berechnung des unbestimmten Integrals
Es sei , und . Setzt man und , dann ist und
Eine Stammfunktion von ist durch gegeben. Folglich ist
2. Berechnung des unbestimmten Integrals mit .
Setzt man und , dann ist . ist eine Stammfunktion von Folglich ist
3. Berechnung des unbestimmten Integrals
Wir versuchen dies wieder mit Hilfe der Substitutionsregel. Hierzu setzen wir . Folglich ist . Rechnet man mit Differentialen, dann ergibt sich hieraus . Folglich ist
Der Integrand wird mit Hilfe der Partialbruchzerlegung so umgeformt, daß sich die resultierenden Integrale leichter berechnen lassen. Hierzu machen wir folgenden Ansatz:
wobei und Konstanten sind und die Gleichheit als Gleichheit von rationalen Funktionen zu verstehen ist. Multipliziert man die Gleichung mit der Nennerfunktion , dann erhält man die folgende Polynomgleichheit:
Ein Koeffizientenvergleich der auf beiden Seiten der Gleichheit stehenden Polynome liefert das Gleichungssystem
= | ||
= | , |
mit den Unbekannten . Die Lösung ergibt . Damit erhält man
= | ||
|
= | |
|
= | |
|
= | |
|
= |
4. Es soll nun berechnet werden.
Wir versuchen dies erneut mit der Partialbruchzerlegung. Hierzu machen wir folgenden Ansatz:
Multipliziert man diese Gleichung (Gleichheit von Funktionen) mit der Nennerfunktion , dann entsteht eine Gleichung zwischen zwei Polynomen:
= | ||
|
= | |
|
= |
Durch Koeffizientenvergleich erhält man hieraus sofort:
Also
= | ||
|
= |
5. Will man das unbestimmte Integral von
für den Fall bestimmen, daß keine reelle Nullstelle besitzt, dann macht man bei der Partialbruchzerlegung folgenden Ansatz:
6. Hat man eine beliebige rationale Funktion in der Form gegeben, dann kann durch Polynomdivision immer erreicht werden, daß
wobei der Grad von kleiner ist als der Grad von .
Für die entsprechende Partialbruchzerlegung von macht man folgenden Ansatz:
wobei schon als Produkt gegeben sei und die Faktoren keine reellen Nullstellen besitzen sollen. Die Multiplikation der Gleichung mit liefert wieder eine Polynomgleichung. Durch Koeffizientenvergleich erhält man ein lineares Gleichungssystem, aus dem man die Koeffizienten berechnen kann. Mit dieser Methode bleiben schließlich nur noch Integrale über Funktionen der Gestalt
und
zu berechnen. Bei der ersten Funktion substituiert man , und löst auf diese Weise das Integral. Bei der zweiten Funktion ist Da keine reelle Nullstelle besitzt, ist . Der Einfachheit wegen setzen wir Substituiert man jetzt so ist und . Folglich erhält man
wobei . Substituiert man erneut , also und , so ergibt sich
mit .
Es bleiben schließlich nur noch die Integrale
und
zu berechnen. Bei dem ersten Integral substituiert man , also
und dies ist ein Grundintegral. Das zweite Integral ist für ein Grundintegral; für führt folgender Ansatz schließlich zum Ziel:
wobei zu bestimmende Konstanten sind. (Wenn dieser Ansatz gelingt, dann hat man das Problem „von auf “ reduziert. Wiederholte Anwendung dieses Verfahrens führt das Ausgangsintegral auf ein Grundintegral zurück.)
Differenziert man die Gleichung , dann erhält man (analog wie bei der Partialbruchzerlegung) eine Gleichheit von rationalen Funktionen. Durch Koeffizientenvergleich entsteht ein lineares Gleichungssystem, aus dem sich bestimmen lassen. Es ergibt sich:
(vgl. auch Literaturangabe [2], Band 3, Nr. 13, Seite 38)
9.2 Das bestimmte (Riemann-) Integral
Wir wenden uns nun dem Flächenproblem zu. Gegeben sei also ein abgeschlossenes Intervall mit und eine in definierte und beschränkte Funktion . Im folgenden sei stets – falls nichts anderes vereinbart wird – dieses Intervall und . (vgl. auch Abb. 9.1)
Wenn in nicht negativ ist und der Flächeninhalt der ebenen Punktmenge überhaupt existiert, dann muß folgende Ungleichung gelten (siehe Abb. 9.4)
Mit dieser Grundidee versuchen wir jetzt, den vermeintlichen „Flächeninhalt“ näherungsweise zu berechnen (hierbei setzen wir die Definition des Flächeninhalts eines Rechtecks als gegeben voraus.)
Zur Behandlung des Problems benötigen wir einige neue Begriffsbildungen: Zerlegung eines Intervalls, Untersumme, Obersumme, Verfeinerung einer Zerlegung.
Definition. (Zerlegung)
ist eine Zerlegung (oder Partition) von =Df
Die Elemente heißen dann Unterteilungspunkte von , bezeichne das -te Teilintervall bezüglich , und heißt Maximaldistanz (oder Norm, Feinheitsmaß,…) von .
Definition. (Untersumme, Obersumme)
Sei in definiert und beschränkt.
(1) heißt Untersumme von in bei der Zerlegung
=Df
(2) heißt Obersumme von in bei der Zerlegung
=Df
Definition. (Verfeinerung)
Es seien und Zerlegungen von . ist eine Verfeinerung von
=Df
Satz 9.5 Es sei in definiert und beschränkt und seien beliebige Zerlegungen von . Dann gilt
und
Ist eine Verfeinerung von , dann gilt
Es ist stets
Beweis. Es sei .
(1). Wegen und gilt
(2). Für ist offenbar und damit auch
und
Folglich ist
(3). Sei die entsprechende Zerlegung von , die durch die Verfeinerung von erzeugt wird, und es sei .
Analog wie im Beweis von (2) erhält man:
und
Addiert man die Ungleichungen bzw. bezüglich , dann erhält man die gewünschte Behauptung.
(4). Es sei eine gemeinsame Verfeinerung von und , d.h., alle Unterteilungspunkte von und von sind auch Unterteilungspunkt von . Dann gilt
Bemerkung. Nach (2) ist die Menge der Untersummen und die Menge der Obersummen stets beschränkt. Dies gibt Anlaß zu folgender Definition:
Definition. (Unterintegral, Oberintegral, Integral ) Es sei in definiert und beschränkt. Die obere Grenze (= Supremum) der Menge aller Untersummen heißt Unterintegral von in , und die untere Grenze (= Infimum) der Menge aller Obersummen heißt Oberintegral von in .
Bez.: bzw. oder auch bzw.
Sind Unter- und Oberintegral von in gleich, dann heißt in bestimmt integrierbar, und der gemeinsame Wert von Unter- und Oberintegral heißt bestimmtes (Riemann-) Integral oder einfach bestimmtes Integral von in . Bez.: oder auch
Definition. (Flächeninhalt )
Sei in definiert, beschränkt und nicht negativ. Die (ebene) Punktmenge besitzt einen Flächeninhalt (der Größe ) =Df
Bemerkung. Aus Satz 9.5 (4) folgt sofort, daß
Beispiel. Wir diskutieren jetzt ein Beispiel dafür, daß das Unterintegral kleiner ist als das Oberintegral.
Dazu sei
und
Dann gilt für jede Zerlegung von und jedes Teilintervall :
und
Folglich ist
und
Für eine beliebige Zerlegung von ist also stets . Folglich ist auch
Damit ist die Funktion in nicht integrierbar, und die entsprechende Punktmenge besitzt keinen Flächeninhalt. (siehe auch Abb. 9.6)
Satz 9.6 Ist in definiert und beschränkt, dann gibt es für jedes ein , so daß für jede Zerlegung von mit gilt
(1) und
(2)
Beweis. (1). Es sei Nach Definition des Unterintegrals existiert eine Zerlegung von , so daß
Da in beschränkt ist, gibt es ein , so daß für alle .
Es sei
und eine beliebige Zerlegung von mit . Wir zeigen:
Es sei eine gemeinsame Verfeinerung von und . Dann ist , also gilt
Es genügt zu zeigen, daß
Wegen enthält jedes Intervall von höchstens einen Zerlegungspunkt von als inneren Punkt. Die durch entstehenden Intervalle werden in zwei Klassen zerlegt:
Intervalle von , die kein von als inneren Punkt enthalten,
Intervalle von , die ein von als inneren Punkt enthalten.
Mit der Zerlegung erhält man die folgenden beiden Intervallmengen:
Intervalle von , die schon zu gehören,
Intervalle von , die nicht zu gehören.
In der Differenz liefern die Intervalle aus (diese gehören auch zu ) keinen Beitrag (die entsprechenden Summanden heben sich gegenseitig auf). Es bleiben noch die Summanden zu berücksichtigen, die durch die Intervalle aus bzw. entstehen.
enthält höchstens Intervalle und höchstens . Wegen , falls , erhält man
(2) zeigt man analog.
Definition. (ausgezeichnete Zerlegungsfolge)
Es sei eine Folge von Zerlegungen des Intervalls . heißt ausgezeichnete Zerlegungsfolge von =Df
Satz 9.7 Sei in definiert und beschränkt und eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge von . Dann gilt
(1)
(2)
(3) Ist in integrierbar, dann sind die Limites in (1) und (2) gleich
Beweis. (1). Es ist zu zeigen: Wenn , dann existiert ein , so daß für jedes gilt:
Nach Satz 9.6 existiert für ein , so daß falls . Nach Voraussetzung ist eine Nullfolge, folglich existiert ein , so daß für alle . Damit leistet für die Behauptung (1) das Verlangte.
(2) beweist man analog.
(3) ist eine triviale Folgerung aus (1) und (2).
9.3 Integrierbarkeitskriterien
Der Umgang mit der Definition der Integrierbarkeit ist ein wenig schwerfällig. Daher wäre es sehr hilfreich, ein gut anwendbares Integrierbarkeitskriterium zu haben. Ein solches Kriterium ist mit dem folgenden Satz gegeben.
Satz 9.8 Riemannsches Integrierbarkeitskriterium
Sei in definiert und beschränkt. Dann gilt ist in integrierbar gdw für jedes eine Zerlegung von existiert, so daß .
Beweis. Sei in integrierbar, also Sei . Nach Satz 9.6 existiert ein , so daß für jedes mit gilt:
und
Addiert man die beiden Ungleichungen, dann erhält man:
Da nach Voraussetzung Unter- und Oberintegral übereinstimmen, ergibt sich sogar für jede Zerlegung mit .
Annahme: ist in nicht integrierbar. Also
Nach Voraussetzung existiert für dieses eine Zerlegung von , so daß . Folglich ist
!
Definition. (Zwischensumme)
Es sei in definiert, eine Zerlegung von , und für jedes sei . Dann nennt man ein Zwischenstellensystem bei der Zerlegung , und heißt Zwischensumme von bei der Zerlegung und dem Zwischenstellensystem .
Bemerkung. Ist in definiert und beschränkt, dann gilt für stets und somit auch
Satz 9.9 Es sei in definiert und beschränkt. Dann gilt ist in integrierbar gdw für jede ausgezeichnete Zerlegungsfolge und jede Folge von zugehörigen Zwischenstellensystemen gilt Es existiert und der Limes ist gleich dem Integral
Beweis. Nach Voraussetzung ist
Für jede ausgezeichnete Zerlegungsfolge gilt nach Satz 9.7:
und
Ist eine zu gehörende Folge von Zwischenstellensystemen, dann ist nach der obigen Bemerkung stets Hieraus folgt sofort die Behauptung.
Angenommen, ist unter der gemachten Voraussetzung nicht integrierbar, also
Sei eine beliebige ausgezeichnete Zerlegungfolge von , dann konvergiert für jedes zugehörige Zwischenstellensystem . Wir konstruieren jetzt ein Zwischenstellensystem, so daß die entsprechende Folge der Zwischensummen nicht konvergiert, und dies liefert uns den gewünschten Widerspruch.
Es sei , und . Offenbar lassen sich und beliebig gut durch Funktionswerte annähern. Für jedes konstruieren wir ein wie folgt:
Ist gerade, dann wählt man so, daß , und
ist ungerade, dann wählt man so, daß
Auf diese Weise erhält man für jedes ein Zwischenstellensystem . Für gerade gilt dann
Analog erhält man für ungerade .
Nach Voraussetzung existiert
Dann konvergiert auch jede Teilfolge von gegen , insbesondere konvergieren die Teilfolgen mit den geraden bzw. mit den ungeraden Indizes gegen . Wir haben also insgesamt
für gerade und
für ungerade ,
und somit gilt
für gerade und
für ungerade .
Schließlich erhält man mit Hilfe von Satz 9.7:
für gerade und
für ungerade .
Das widerspricht der Annahme. Folglich ist
in
integrierbar.
Bemerkung. Nach dem Satz 9.9 kann man das Riemann-Integral auch als Limes einer Folge von Zwischensummen definieren.
9.4 Einige Klassen integrierbarer Funktionen
Satz 9.10 Ist in stetig, dann ist in integrierbar.
Beweis. Der Beweis erfolgt mit Hilfe des Riemann-Kriteriums. Nach Voraussetzung ist stetig in , folglich ist dort auch gleichmäßig stetig. Sei . Wir suchen eine Zerlegung von , so daß . Sei jetzt beliebig, aber
Zu diesem existiert auf Grund der gleichmäßigen Stetigkeit von in ein , so daß für jedes gilt:
Wenn , so .
Sei jetzt eine Zerlegung von , so daß . Dann gilt:
|
||
|
||
|
Folglich ist
in
integrierbar.
Satz 9.11 Ist in definiert und beschränkt und besitzt in höchstens endlich viele Unstetigkeitsstellen, dann ist in integrierbar.
Beweis. Der Beweis erfolgt induktiv über die Anzahl der Unstetigkeitsstellen von in dem betrachteten Intervall. Ist , dann ist in stetig und damit nach Satz 9.10 integrierbar. Für gelte die Behauptung bereits. Habe jetzt Unstetigkeitsstellen in . Sei eine Unstetigkeitsstelle mit . (Für oder vereinfacht sich der Beweis, man führt ihn aber analog.) Wir wählen , so daß und keine weitere Unstetigkeitsstelle von enthält. Nach Voraussetzung ist in beschränkt. Folglich existiert eine Konstante , so daß , insbesondere gilt dann
Es sei . Wir suchen eine Zerlegung von , so daß .
Dazu wählen wir so dicht bei , daß
Dann gilt
Seien nun Zerlegungen von bzw. von , so daß
für .
Nach Induktionsvoraussetzung gibt es solche Zerlegungen, da in und in jeweils höchstens Unstetigkeitsstellen besitzt. Sei und , dann ist offenbar eine Zerlegung von , und es gilt
Folglich ist
in
integrierbar.
Satz 9.12 Ist in definiert und monoton, dann ist in integrierbar.
Beweis. (mit Hilfe des Riemann-Kriteriums) Sei . Wir beweisen den Satz für monoton wachsendes , für monoton fallende Funktionen erfolgt der Beweis analog. Es sei mit . Dann ist offenbar . Die Teilintervalle sind also alle gleich lang. Da monoton wächst, ist
und
Folglich gilt
|
||
|
||
|
||
|
falls hinreichend groß gewählt wird. |
Damit ist gezeigt, daß
in
integrierbar ist.
Beispiele.
1. Mit dem letzten Satz lassen sich Beispiele für Funktionen angeben, die in einem Intervall sogar unendlich viele Unstetigkeitsstellen besitzen und trotzdem integrierbar sind (vgl. Abb. 9.10).
Sei , eine streng monoton wachsende Folge mit und (z.B. , und sei wie folgt definiert:
ist offenbar in jedem Punkt unstetig, aber in monoton fallend und daher integrierbar.
2. (vgl. dazu Literaturangabe [3], Bd. II, Nr 300, Beispiele und Ergänzungen.)
Sei
Wir betrachten in dem Intervall . Dann ist in allen irrationalen Punkten aus stetig und in allen rationalen unstetig (vgl. Aufgabe 6, Kapitel 5). Folglich liegen die Unstetigkeitsstellen dicht in dem Intervall. Trotzdem ist die Funktion in integrierbar.
Wir wenden uns nun der bestimmten Integration zusammengesetzter Funktionen zu.
Satz 9.13 Seien und in integrierbar. Dann gilt
Ist für alle , so ist
ist in integrierbar.
ist in integrierbar, und es ist
Beweis. (1) und (2) beweist man sehr leicht mit Hilfe von Satz 9.9 unter Benutzung von Zwischensummen und entsprechenden Grenzwertbetrachtungen.
(3). (Beweis mit Hilfe des Riemann-Kriteriums) Wir betrachten den Fall: in . Hierauf lassen sich die restlichen Fälle zurückführen. Denn nach Voraussetzung sind und in beschränkt, folglich gibt es eine Konstante , so daß
und in .
Wenn die Behauptung für nicht-negative Funktionen schon gilt, dann ist in integrierbar, und es ist
und damit ist
Nach (1) und (2) ist dann in für beliebige integrierbar.
Wir beweisen jetzt die Behauptung für nicht-negative Funktionen. Es sei . Gesucht ist eine Zerlegung , so daß .
Für eine beliebige Zerlegung mit gilt:
Wegen ist
und
Da in beschränkt sind, existiert ein , so daß . Folglich ist
|
= | |
|
= | |
|
Insgesamt gilt also
= | ||
|
||
|
= |
Nach dem Riemannschen Integrierbarkeitskriterium existieren für und Zerlegungen bzw. von , so daß und
Wählt man jetzt als gemeinsame Verfeinerung von und , dann ist nach den obigen Betrachtungen
(4) und (5) beweist man ebenfalls mit dem
Riemannkriterium durch geeignete Abschätzungen. Der Beweis soll hier
weggelassen werden.
Satz 9.14 Ist in integrierbar und , dann ist in und in integrierbar, und es ist
Beweis. Es sei . Nach dem Riemannkriterium existiert eine Zerlegung von , so daß . O.B.d.A. sei ein Unterteilungspunkt von (anderenfalls betrachtet man die Verfeinerung von , die durch Hinzunahme des Punktes entsteht). Sei und seien und . Dann sind Zerlegungen von bzw. von . Damit erhält man
und damit auch
für .
Folglich ist in und in integrierbar.
Es sei nun eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge von , und in jeder Zerlegung komme als Unterteilungspunkt vor. Weiterhin seien und analog aus gebildet, wie und aus . Dann sind und Zerlegungen von bzw. von . Mit Hilfe von Satz 9.7 erhält man schließlich
= | ||
|
= | |
|
= | |
|
= | |
|
= |
![]() |
Korollar. Sei und in integrierbar, dann ist in jedem Teilintervall integrierbar, und es ist
Beweis. Den Beweis führt
man leicht (mit Hilfe von Satz 9.14) induktiv
über
.
Definition. Sei und in integrierbar. Dann definieren wir
=Df und
Folgerung. Ist und in integrierbar, dann ist
9.5 Mittelwertsätze der Integralrechnung
Satz 9.15 Sei , und seien in integrierbar. Dann gilt (1) Wenn für jedes , so ist . (2) Wenn für jedes , so ist
Beweis. (1). Sei eine Zerlegung von und . Dann ist wegen und auch
.
(2). Wenn , so für jedes . Nach (1) gilt dann
also auch
.
Bemerkung. Ist stetig und nicht negativ in und , so ist für jedes .
Beweis. Gäbe es ein , so daß , so wäre auch für positiv. Da mit auch stetig ist, existiert eine -Umgebung von , so daß in ebenfalls positiv ist. Ist eine Zerlegung, so daß und Zerlegungspunkte sind ( hinreichend klein; für bzw. betrachtet man die entsprechende rechts- bzw. linksseitige Umgebung von ), etwa und , dann ist in , also auch
Damit ist
.
Satz 9.16 Erweiterter 1. Mittelwertsatz der Integralrechnung
Sei , seien in integrierbar, und wechsle in nicht das Vorzeichen d.h., für alle oder für alle . Dann gibt es ein mit , so daß
.
Beweis. Sei für alle (den verbleibenden Fall beweist man analog). Dann gilt für und für offenbar
und somit nach Satz 9.15
.
Für
und
ist
und somit
falls
für
leistet
das Verlangte.
Korollar. (1. Mittelwertsatz der Integralrechnung) Voraussetzungen über wie im Satz . Dann gilt (1) Ist dann gibt es ein mit , so daß . (2)
Beweis. (1) ist trivial.
(2). Da
in
stetig ist, nimmt
die Werte
und
als Funktionswerte an. Nach dem Zwischenwertsatz gibt es dann für
mit
auch
ein
, so daß
. Damit gilt die
Behauptung.
Wir werden jetzt mit Hilfe des bestimmten Integrals mit veränderlicher oberer Grenze neue Funktionen definieren. Dazu sei zunächst eine in dem Intervall definierte und beschränkte Funktion. Dann ist offenbar für jedes die Funktion in jedem Teilintervall bestimmt integrierbar. Damit ist jedem durch ein bestimmter Wert zugeordnet, d.h., durch ist in eine Funktion definiert. Wir leiten jetzt einige Eigenschaften dieser Funktion her.
Satz 9.17 Ist in integrierbar und , dann ist die durch definierte Funktion in stetig.
Beweis. Wir haben zu zeigen, daß in jedem Punkt stetig ist, d.h., wenn , so . Es ist
= | ||
|
= | |
|
= | |
|
= |
Die letzte Gleichheit folgt aus dem erweiterten
1. Mittelwertsatz der Integralrechnung, wobei
zwischen dem Infimum und dem Supremum der Funktion
in dem Intervall
bzw. in
liegt. Nach
Voraussetzung ist
in
integrierbar, also auch beschränkt, folglich muß auch
in
beschränkt sein.
Wenn nun
, so gilt auch
, und damit auch
. Folglich ist
in
stetig.
Satz 9.18 Ist in stetig und , dann ist die durch definierte Funktion in differenzierbar, und es ist d.h., ist eine Stammfunktion von in .
Beweis. Es gelte und . Dann erhält man mit Hilfe des 1. Mittelwertsatzes der Integralrechnung (Korollar (2)):
= | ||
|
= | |
|
= | für ein zwischen und |
|
= | |
|
= |
Nach Voraussetzung ist in stetig. Wegen und damit auch gilt: . Folglich erhält man
.
Daher ist
für jedes
.
Bemerkung. Es soll noch einmal hervorgehoben werden, daß eine in stetige Funktion dort eine Stammfunktion besitzt, und ist die Stammfunktion von in , die an der Stelle null wird (vgl. Abb. 9.12)
Jetzt sind wir in der Lage, den folgenden wichtigen Satz zu formulieren, mit dessen Hilfe man bestimmte Integrale berechnen kann, wenn man eine Stammfunktion der zu integrierenden Funktion schon kennt.
Satz 9.19 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
Ist in stetig und eine Stammfunktion von in , dann ist
Beweis. Sei eine (beliebige) Stammfunktion von und . Dann ist und Da und Stammfunktionen der gleichen Funktion in einem Intervall sind, unterscheiden sie sich nur um eine additive Konstante, also . Dann gilt
Damit gilt die Behauptung.
Bez.: .
Bemerkung. Um also das bestimmte Integral für eine stetige Funktion berechnen zu können, genügt es, eine Stammfunktion von zu kennen und die entsprechnede Differenz zu berechnen.
Unstetige Funktionen können bestimmt integrierbar sein, ohne eine Stammfunktion zu besitzen (vgl. Aufgabe 13, Kap. 9).
Andererseits gibt es Funktionen, die eine Stammfunktion besitzen, aber nicht bestimmt integrierbar sind (vgl. Aufgabe 14, Kap. 9).
Bestimmte und unbestimmte Integrierbarkeit sind also unabhängig voneinander.
Zur Erinnerung sei noch einmal erwähnt, daß eine Funktion in dem Intervall stetig differenzierbar ist, wenn in differenzierbar und die Ableitung von dort stetig ist. Wir wollen uns jetzt mit der partiellen Integration und der Substitutionsregel bei bestimmten Integralen befassen.
Satz 9.20 partielle Integration
Sind und in stetig differenzierbar, dann ist
Beweis. Offenbar ist mit und auch in differenzierbar, und es gilt . Folglich ist eine Stammfunktion von . Aufgrund der Stetigkeit von und sind auch und stetig. Dann gilt nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung:
= | ||
|
= |
Also
Satz 9.21 Substitutionsregel
Ist in stetig, in stetig differenzierbar und , und , dann gilt Ist außerdem injektiv, also und , dann ist
Beweis. Sei eine Stammfunktion von ; sie existiert nach Satz 9.18. Dann ist offenbar eine Stammfunktion von in . Außerdem ist in stetig. Folglich gilt nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
= | ||
|
= | |
|
= | |
|
= |
![]() |
Satz 9.22 2. Mittelwertsatz der Integralrechnung Ist in monoton und differenzierbar und sind in stetig, dann gibt es ein , so daß .
Beweis. Ist konstant, dann ist die Behauptung trivial.
Sei nun nicht konstant und o.B.d.A. sei in monoton wachsend, folglich ist . (Für monoton fallende Funktionen verläuft der Beweis analog.) Dann ist für alle und für wenigstens ein .
Aus dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung und der Bemerkung zum Satz 9.15 und folgt
Es sei jetzt Nach Satz 9.18 ist in differenzierbar und . Mit Hilfe der partiellen Integration (Satz 9.20) erhält man
Nach dem Korollar zum erweiterten 1. Mittelwertsatz der Integralrechnung gibt es ein , so daß
= | ||
|
= | |
|
= |
Wegen und gilt nach und
= | ||
|
= | |
|
= |
![]() |
Wir wenden uns jetzt der Bestimmung des Volumens eines sogenannten Rotationskörpers zu. Zunächst soll aber definiert werden, was unter einem solchen Körper zu verstehen ist.
Dazu sei ein abgeschlossenes Intervall mit und sei eine in definierte und integrierbare Funktion, die in dem Intervall nicht negativ wird. Dann bestimmt die Punktmenge
bekanntlich eine Fläche. Läßt man nun diese Fläche um die -Achse rotieren, dann entsteht eine Rotationsfigur oder ein Rotationskörper (vgl. Abb. 9.13).
Wir interessieren uns nun für die Frage, ob man diesem Rotationskörper in „vernünftiger“ Weise ein Volumen zuschreiben kann, und wie man gegebenenfalls dieses Volumen definieren und berechnen könnte.
Das Problem ist aufgeworfen, wir versuchen es zu lösen. Dazu sei eine Zerlegung von . Parallele Ebenen im , die zur -Achse senkrecht stehen und durch die jeweiligen Zerlegungspunkte auf der -Achse gehen, schneiden aus der Rotationsfigur Kreisscheiben heraus. Das angenäherte Volumen der Kreisscheibe, die durch die Zerlegungspunkte und bestimmt wird, kann durch einen geeigneten Kreiszylinder angegeben werden. Dazu sei beliebig. Dann ist durch das Volumen des entsprechenden Zylinders mit der Höhe und dem Radius gegeben. ist eine Zwischenstelle in (vgl. Abb. 9.8). Entsprechend dieser Überlegung ist durch
das angenäherte Volumen der gesamten Rotationsfigur bestimmt. Diese Summe ist offensichtlich eine Zwischensumme der Funktion bei der Zerlegung und dem Zwischenstellensystem . Nach Voraussetzung ist in integrierbar, folglich ist auch in integrierbar. Betrachtet man jetzt eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge von und eine Folge von zugehörigen Zwischenstellensystemen, dann existiert , und der Limes ist gleich dem Integral Daher definiert man das Volumen der Punktmenge wie folgt:
.
Beispiele.
(1). Ist konstant, , dann erhält man mit dieser Formel den Rauminhalt eines Kreiszylinders mit der Höhe und dem Radius .
.
(2). Es sei und . Dann ist das Volumen des entsprechenden Rotationskörpers gegeben durch
(3). Es sei jetzt und seien in definierte Funktionen, so daß und .
Wir lassen die durch und bestimmte Fläche um die -Achse rotieren und bestimmen das Volumen des entsprechenden Rotationskörpers.
= = =
Als Spezialfall erhält man das Volumen eines Kegels mit der Höhe und dem Radius . Hierfür ist nämlich und . Also
(4). Wir berechnen jetzt das Volumen eines Torus.
Dazu betrachten wir die Gleichung eines Kreises mit dem Mittelpunkt und dem Radius . Löst man diese Gleichung nach auf, dann erhält man zwei Funktionen und ; den oberen und unteren Kreisbogen des Kreises. Läßt man die Fläche des entsprechenden Kreises um die -Achse rotieren, dann erhält man einen Torus. Dessen Volumen ist gegeben durch
Es gilt
= | ||
|
= |
und damit gilt
Wir lösen zunächst das unbestimmte Integral, um eine Stammfunktion zu erhalten. Es ist
= | ||
|
= | ; (für ) |
|
= | ; (für ) |
|
= | () |
|
= | ; (partielle Integration) |
|
= | |
|
Aus () und der letzten Zeile folgt
Damit haben wir das unbestimmte Integral – allerdings bezüglich – gelöst. Wir wollen aber das bestimmte Integral bezüglich in den Grenzen von bis berechnen. Dazu müßten noch die Grenzen entsprechend der Substitutionen transformiert oder die Substitutionen rückgängig gemacht werden. Folgende Substitutionen wurden vorgenommen:
und
Für gilt und schließlich
In den betrachteten Intervallen sind die Transformationen bijektiv, folglich ist
= | ||
|
= | |
|
= | |
|
= | |
|
= |
Das gleiche Ergebnis erhält man, indem die Integrationsgrenzen entsprechend transformiert werden:
= | ||
|
= | |
|
= |
Also
Allgemeiner gilt die 1. Guldinsche Regel:
Das Volumen eines Rotationskörpers ist gleich dem
Flächeninhalt der rotierenden Fläche, multipliziert mit dem Umfang des
Kreises, der durch den Mittelpunkt (oder Schwerpunkt) der rotierenden
Fläche beschrieben wird.
9.7 Uneigentliche Integrale
Beim Riemann-Integral wurde stets vorausgesetzt, daß die zu integrierenden Funktionen in einem abgeschlossenen (endlichen) Intervall definiert und beschränkt sind. Für manche Zwecke ist es vorteilhaft, auch Integrale über unendlichen Intervallen oder über unbeschränkten Funktionen zuzulassen. Dies führt zum sogenannten uneigentlichen Integral.
Definition. (uneigentliches Integral über unendlichen Intervallen ) Es sei eine reelle Zahl, sei für alle definiert und in integrierbar, und es sei ist in uneigentlich integrierbar =Df
Bez.:
Ist in uneigentlich integrierbar, dann heißt konvergent, anderenfalls divergent.
Ist in uneigentlich integrierbar, dann heißt absolut konvergent.
Analog definiert man das uneigentliche Integral von in . Hierbei sei für jedes definiert und in integrierbar. Man betrachtet dann und
Definition. ist in uneigentlich integrierbar =Df
Beispiele.
(1). Es sei
Gesucht ist das uneigentliche Integral von in .
Es ist für beliebiges .
Wir betrachten
= | ||
|
= | . |
Damit gilt . Also
Analog ist
und
Folglich ist
und somit .
Bemerkung. könnte auch durch definiert werden. Interpretiert man das uneigentliche Integral als Fläche, dann schließt die Funktion mit der -Achse in dem unendlichen Intervall eine „endliche“ Fläche ein.
(2). Wir betrachten jetzt die Funktion und zeigen, daß das uneigentliche Integral nicht konvergiert. Dies bedeutet anschaulich gesprochen, daß die „Fläche“, die von oben durch die Funktion und von unten durch die -Achse in dem Intervall begrenzt wird, unendlich groß ist (vgl. Abb. 9.18).
Es ist
und
;
d.h. der Limes existiert nicht.
Wir betrachten jetzt uneigentliche Integrale über unbeschränkten Funktionen.
Definition. (uneigentliche Integrale über unbeschränkten Funktionen ) Es sei und es gelte eine der Bedingungen:
(1) ist in definiert und für jedes in integrierbar. (2) ist in definiert und für jedes in integrierbar. (3)
ist in uneigentlich integrierbar
=Df
Diese Limites heißen – falls sie existieren – uneigentliche Integrale von in , und heißt dann konvergent, anderenfalls divergent.
Die folgenden Abbildungen sollen einige Möglichkeiten für die Bildung von uneigentlichen Integralen über beschränkten Intervallen und unbeschränkten Funktionen veranschaulichen.
Beispiel. Es sei und Es soll berechnet werden, falls das uneigentliche Integral konvergiert. Für ist in stetig und damit auch integrierbar. Es ist
Folglich gilt
.
Die verschiedenen Typen von uneigentlichen Integralen über unendlichen Intervallen bzw. über unbeschränkten Funktionen lassen sich natürlich auch kombinieren.
Tiefergehende Untersuchungen über uneigentliche Integrale
findet man z.B. in der Literaturangabe [3], Band
II, XII Uneigentliche Integrale, Seite 574 – 676.
9.8 Länge von Kurven
Zur Erinnerung: ist eine Kurve in , falls eine stetige Vektorfunktion ist.
Definition. (doppelpunktfrei ) ist doppelpunktfrei =Df
Beispiele. Wir geben jetzt einige wichtige Beispiele von Kurven an (vgl. auch die Abbildungen 6.9 und 6.10 aus dem Kapitel 6).
Die nächste Abbildung zeigt eine sog. Schraubenlinie.
Unser Ziel ist es nun, die Länge einer Kurve zu definieren bzw. zu berechnen. Für beliebige Kurven wird sich eine Länge nicht definieren lassen. Daher betrachten wir jetzt einige speziellere Klassen von Kurven.
Definition.
Sei eine Kurve mit der Parameterdarstellung .
(1)
(2)
(3)
Es sei zunächst eine Kurve und eine Zerlegung von . Verbindet man die Bildpunkte von der Reihe nach durch Verbindungsstrecken, dann entsteht ein der Kurve einbeschriebener Polygonzug (vgl. Abb. 9.23). Der Abstand zwischen je zwei „benachbarten“ Bildpunkten und auf der Kurve beträgt . Folglich ist die Länge des Polygonzuges gegeben durch
Wir definieren jetzt, was unter der Länge einer Kurve zu verstehen ist.
Definition. (Länge einer Kurve ) Sei eine Kurve mit der Parameterdarstellung . ist rektifizierbar (d.h. besitzt eine Länge ) =Df
Es sei jetzt eine stetig differenzierbare Kurve in . Insbesondere ist , und stetig differenzierbar für jedes . Weiterhin sei eine Zerlegung von , und der Einfachheit halber sei und . Der Abstand zwischen den auf der Kurve liegenden Punkten und beträgt
= | ||
|
= |
Nach Voraussetzung sind differenzierbar in . Folglich gibt es nach dem 1. Mittelwertsatz der Differentialrechnung für jedes ein , so daß
( hängt von und ab.)
Folglich ist
Also
Die Länge des einbeschriebenen Polygonzuges ist somit
Die letzte Summe sieht einer Zwischensumme bezüglich der Funktion
ähnlich. Offenbar ist für , und
= | ||
|
= |
eine Zwischensumme. Wir werden jetzt zeigen, daß sich und bei geeigneten Zerlegungen um beliebig wenig unterscheiden.
Lemma. Es sei eine durch definierte und stetig differenzierbare Kurve. Weiterhin sei eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge von , und sei eine Folge zugehöriger Zwischenstellensysteme von . Dann folgt :
Für jedes gibt es ein , so daß für jedes gilt :
, wobei
Beweis. Sei und . Dann gilt
,
Nach Voraussetzung sind die Funktionen stetig in , also sind sie auch gleichmäßig stetig. Folglich erhält man: Für jedes existiert ein , so daß für alle mit gilt: , also auch .
Wählt man so groß, daß für alle , dann erhält man
|
= | |
|
= | . |
Wir wählen jetzt
Dann ist
Satz 9.23 Es sei und eine stetig differenzierbare Kurve. Dann ist rektifizierbar, und es gilt
Beweis. Wir zeigen zunächst, daß die Menge
Zerlegung von }
nach oben beschränkt ist ( es existiert , und somit ist rektifizierbar).
Angenommen, ist nicht nach oben beschränkt. Dann gibt es eine Folge von Zerlegungen des Intervalls , so daß die Folge nicht nach oben beschränkt ist. Sei o.B.d.A. eine ausgezeichnete Zerlegungsfolge (durch entsprechende Verfeinerungen läßt sich dies immer erreichen; und aufgrund der Dreiecksungleichung wird bei einer verfeinerten Zerlegung der einbeschriebene Polygonzug höchstens länger). Nach dem Lemma gilt dann für
Wegen der Stetigkeit von in ist als reellwertige Funktion einer reellen Veränderlichen in integrierbar. Folglich gilt nach Satz 9.9
Da und eine Nullfolge ist, muß auch die Folge gegen konvergieren. Dies führt zum Widerspruch.
Folglich gilt
, und damit ist
Korollar. Ist stetig differenzierbar, und , dann ist rektifizierbar und
Beweis. Die Rektifizierbarkeit von ist offensichtlich.
Weiterhin gilt
Bemerkung. Betrachtet man eine Kurve, die (wie im Korollar) durch eine reellwertige Funktion einer Veränderlichen definiert ist, dann erhält man eine vereinfachte Formel für die Länge dieser Kurve.
Beispiele.
(1). Verbindungsstrecke zweier Punkte in der Ebene.
Es sei und . Wählt man als Parameterintervall , dann ist durch eine Parameterdarstellung der Verbindungsstrecke gegeben. Offenbar sind in stetig differenzierbar und und damit für jedes . Folglich ist rektifizierbar und
Natürlich hätte man das Ergebnis in diesem einfachen Fall auch ohne Integrale erhalten.
(2). Umfang eines Kreises mit dem Radius .
Wir betrachten einen Kreis mit dem Mittelpunkt und dem Radius (vgl. auch Abb. 9.20).
Für die Kreislinie ist durch mit eine Parameterdarstellung gegeben. Offenbar ist in stetig differenzierbar und . Folglich ist
und damit
(3). Länge der Schraubenlinie (vgl. Abb. 9.22).
Wir betrachten eine Schraubenlinie mit dem Radius und zwei „Gewindegängen“. Es sei , . ist in stetig differenzierbar und . Dann ist
Damit erhält man
(4). Länge der Normalparabel, definiert im Intervall (Beispiel für die Berechnung der Länge einer Kurve mit Hilfe des Korollars zu Satz 9.23).
Es sei mit und . Dann ist durch eine stetig differenzierbare Kurve gegeben und . Also
Man berechnet zunächst am besten das unbestimmte Integral
(Die eigentliche Berechnung des Integrals bleibt als Übungsaufgabe.) Also
Bemerkung. Die Stetigkeit von ist nicht hinreichend für die Rektifizierbarkeit der entsprechenden Kurve . Wir betrachten als Beispiel die Funktion
ist in stetig, aber nicht rektifizierbar.
Wir betrachten jetzt die Funktion mit und die Kurve und zeigen, daß nicht rektifizierbar ist.
Dazu sei und eine Zerlegung von (siehe auch Abb. 9.25).
Wir berechnen zunächst den Abstand zwischen den Punkten und in . Es ist
Völlig analog ist
Ebenso zeigt man, daß die Abstände zwischen und bzw. zwischen und größer oder gleich sind.
Insgesamt erhält man, daß der Polygonzug eine Länge
besitzt. Für die Länge des gesamten (einbeschriebenen) Polygonzuges bezüglich des Intervalls ist dann
und diese Summe ist für , also für , nicht beschränkt. Folglich ist nicht rektifizierbar.
Im nächsten Abschnitt befassen wir uns mit der Integrierbarkeit der Grenzfunktion bei Funktionenfolgen und -reihen.
9.9 Integrierbarkeit der Grenzfunktion bei Folgen und Reihen von Funktionen
Satz 9.24 Integrierbarkeit der Grenzfunktion Sei und eine Folge von Funktionen, die in dem Intervall definiert sind. Dann gilt
Beweis. (1). Sei . Nach Definition der gleichmäßigen Konvergenz gibt es ein , so daß für jedes und für jedes gilt:
Da in integrierbar ist, ist und damit auch in beschränkt. Mit Hilfe des Riemannschen Integrierbarkeitskriteriums zeigen wir, daß in integrierbar ist.
Sei fixiert. Nach der obigen Ungleichung ist
für alle .
Folglich gilt für jedes Teilintervall :
und .
Da in integrierbar ist, existiert eine Zerlegung von , so daß
.
Schließlich erhält man für :
Folglich ist in integrierbar.
Wegen gilt weiterhin
Hieraus folgt
(2). Setzt man , dann konvergiert in gleichmäßig gegen , und alle sind in integrierbar. Folglich gilt nach (1):
Weiterhin ist
und damit gilt
Korollar. (1)
(2)
Beweis. Der Beweis ist
nach den Sätzen 5.20 und 9.24(2) trivial.
Schwerpunkte für die Wiederholung von Kapitel 9